
03.06.1986
Lesezeit: etwa 3 Minuten
Das geführte Interview gibt einen erschütternden Einblick in die ersten Stunden nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Es zeigt nicht nur die unmittelbaren Gefahren der Strahlung, sondern auch die völlige Unwissenheit der Einsatzkräfte – eine Unwissenheit, die manche das Leben kostete. Der Feuerwehrmann, Aleksei Mikhailovich Sidorov beschreibt in unserem Interview, wie er und seine Kollegen mit bloßen Händen Graphit vom Dach des Reaktors warfen ohne zu wissen, dass es sich um hochradioaktives Material handelte.
Ort: Nähe Kiew, Ukraine
Datum: Mai 1986
Reporter:
Sie waren einer der ersten Einsatzkräfte vor Ort. Können Sie beschreiben, was Sie gesehen haben?
Aleksei:
Als wir ankamen, war alles hell. Nicht vom Licht – vom Staub. Der Himmel war schwarz, aber der Boden leuchtete. Es war wie Nebel, nur trockener. Wir wussten nicht, dass es Strahlung war. Uns wurde gesagt, es sei ein Dachbrand.
Reporter:
Wussten Sie, dass der Reaktor offen war?
Aleksei:
Nein. Man sagte uns, es gäbe eine Explosion im Maschinenraum. Kein Wort vom Reaktor. Erst Stunden später, als einige unserer Männer zusammenbrachen, wurde es klar. Aber da waren wir schon auf dem Dach. Wir haben Grafitstücke mit den Händen geworfen.
Reporter:
Wie lange waren Sie im Einsatz?
Aleksei:
Drei Schichten à 90 Sekunden. Mehr durfte keiner. Aber viele gingen öfter rein. Sie wollten helfen. Und keiner wusste, dass Sekunden über Leben oder Tod entscheiden.
Reporter:
Wie war die Stimmung?
Aleksei:
Stolz. Das klingt vielleicht falsch, aber wir dachten, wir retten ein Land. Es wurde nicht viel geredet. Alle waren ruhig. Manche haben gebetet, aber leise.
Reporter:
Gab es Schutzkleidung?
Aleksei:
Offiziell ja. In der Praxis – Stoffmasken, Handschuhe, manche trugen Feuerwehranzüge. Aber gegen das, was da war, half nichts. Die Strahlung ging durch alles. Es gab keinen Geruch, kein Brennen. Nur später: Übelkeit, Schwindel, Hautrötungen.
Reporter:
Was passierte nach dem Einsatz?
Aleksei:
Wir wurden abtransportiert und untersucht. Einige Kollegen haben in der ersten Woche das Bewusstsein verloren. Ich selbst konnte drei Tage nicht schlafen. Das Herz raste. Ein anderer bekam Nasenbluten, immer wieder.
Reporter:
Fühlen Sie sich betrogen?
Aleksei:
Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber ich war Soldat. Man stellt keine Fragen. Wir wussten, es ist ernst. Aber wir dachten nicht, dass wir sterben könnten. Heute verstehe ich: Wir waren nicht vorbereitet. Niemand war das.
Reporter:
Würden Sie es wieder tun?
Aleksei:
Ich weiß es nicht. Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht. Ich denke oft an die, die mit mir da waren. Viele leben nicht mehr. Ich hatte Glück. Aber was ist das wert, wenn es andere nicht hatten?
Reporter:
Gibt es etwas, das Sie der Welt sagen möchten?
Aleksei:
Ja. Vergesst nicht, was in Tschernobyl passiert ist. Technik kann versagen. Menschen können schweigen. Aber die Strahlung wird unsere Erde und unser Leben verändern.