Liebes Tagebuch,
Es ist der 26.April. Ein Tag, an dem ich immer noch erwarte, dass die Welt in ihre gewohnten Bahnen zurückkehrt. Aber sie tut es nicht. Die Welt, die vor einigen Stunden noch normal schien, hat sich plotzlich verändert, und ich habe das Gefühl, dass nichts mehr so sein wird wie es war. Die Sorgen, die mich heute Morgen quälten, sind jetzt noch schwerer, vermischen sich mit etwas viel Größerem.
Mein Bruder. Er liegt im Krankenhaus, gerade heute. Eine Operation, nichts Ungewöhnliches, aber ich spüre diese tiefe Angst in mir, die mich den ganzen Tag begleitet. Ich konnte den ganzen Tag nicht mit ihm sprechen und erst als er aufwachte bekam er von all den „Störfällen“ mit, die an diesem Tag passiert sind. Ich versuchte mich von meinen Gedanken abzulenken, aber es war unmöglich.
Der Nachricht kam um etwa 11 Uhr. „Störfall im Kernkraftwerk“, hieß es. Ein Unfall. Aber wie groß? Was bedeutet das? Ich wollte es nicht glauben und ich wollte mich nicht darauf einlassen, doch die Nachrichten, die so unfassbar unklar waren, begannen sich in meinem Kopf festzusetzen.
Der Bruder, der im Krankenhaus liegt, das Unglück in Tschernobyl, der Störfall und alles war miteinander verbunden. Der Tag, der noch vor wenigen Stunden so klar schien, begann sich aufzulösen. Was ist hier passiert? Und wie konnte es sein, dass ausgerechnet heute alles so durcheinander geriet?
Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Sorge um ihn und diesem wachsenden Gefühl von Verzweiflung, das sich mit jedem Moment verstärkt. Was passiert da draußen, was wird mit uns passieren? Die Nachrichten werden immer unklarer und die Bevölkerung weiß nicht mehr was sie denken soll. Ich höre die Sirenen, höre die Worte „Kernschmelze“ und
„Radioaktivität“, und es wird mir bewusst, dass ich nicht weiß, wie ich mit all dem umgehen soll. Meine eigentliche Sorge um meinen Bruder war schon da, doch jetzt kam auch noch ein zweiter „Störfall“ hinzu… wie soll ich mit all dem umgehen?
Ich will bei meinem Bruder sein, aber was, wenn er es auf Grund des „Störfalls“ nicht überlebt, weil es etwas miteinander zu tun hat? Mein Kopf kann nicht aufhören an all die möglichen Szenarien zu denken, was an dem heutigen Tag noch passieren könnte…
Liebes Tagebuch, ich hoffe dass die Welt morgen wieder anders aussieht und sich alles zum Guten wenden wird und das der heutige Tag in Vergessenheit gerät.
Christa Wolf (Lauren) 26.04.1986