Ein Gespräch mit Patricia Wolf, geführt am 27. April 1986 von Janina Doerr. 

Janina Doerr: Frau Wolf, danke, dass Sie sich einen Tag nach diesen erschütternden Ereignissen Zeit für ein Gespräch mit mir nehmen. Für viele Menschen war der gestrige Tag ein großer Schock. Doch für Sie und Ihre Familie gab es gestern gleich zwei Störfälle. Wie gehen Sie und Ihre Familie damit um?

Patricia Wolf: Ja, das stimmt, der gestrige Tag hat sehr an unseren Nerven gezerrt. Eigentlich begann er wie jeder andere Tag bis ein Anruf aus dem Krankenhaus kam, dass mein Onkel – der Bruder meiner Mutter – am Gehirn operiert wird. Während ich diese Nachricht verarbeitet habe, folgte der nächste Schock mit der vagen Nachricht eines Unglücks. Der Reaktorunfall in einem Kernkraftwerk war zwar anfangs noch nicht bestätigt, aber man hat sofort gemerkt, wie angespannt und verunsichert alle sind.

Janina Doerr: Ich kann mir nur vorstellen, wie es sich anfühlen muss, auf so viele Antworten warten zu müssen. Der Tag muss sich für Sie unendlich lang angefühlt haben.

Patricia Wolf: Absolut. Alles schien plötzlich doppeldeutig. Man wartet auf ein Lebenszeichen aus dem Operationssaal – und gleichzeitig auf eine Klarstellung, was da eigentlich genau passiert ist. Ganz abgesehen von den Folgen, die bevorstehen könnten. Es entsteht ein Gefühl, dass etwas nicht mehr stimmt.

Janina Doerr: Was geht Ihnen nun durch den Kopf, wenn Sie hören, dass radioaktive Strahlung freigesetzt worden sein könnte?

Patricia Wolf:  Angst – aber auch Wut. Angst davor, dass man etwas nicht sieht, nicht riecht und es trotzdem da ist und es gefährlich ist. Wütend, dass es so weit kommen konnte. Das, was uns gerade passiert, könnte ein Wendepunkt sein. Vielleicht müssen wir unsere Vorstellung von Sicherheit und unsere generellen Sichtweisen überdenken.

Janina Doerr: Ihre Mutter ist bekannt für ihre kritische Haltung, auch in Bezug auf die Informationspolitik. Ist das etwas, dass Sie in Ihrer Familie spüren?

Patricia Wolf: Natürlich! Bei uns zu Hause wurde nie nur Radio gehört, es wurde hinterfragt und diskutiert. Meine Mutter hat uns gelehrt, nicht immer alles zu glauben. Heute merke ich, dass mich diese Haltung schützt und zugleich verletzlich macht, da ich natürlich auch unschöne Dinge erfahre.

Janina Doerr: Haben Sie heute schon mit Ihrer Mutter gesprochen? 

Patricia Wolf: Ja. Kurz. Sie war sehr aufgewühlt. Der gestrige Tag hat sie sehr belastet. Ich glaube, sie versucht etwas zu begreifen, was sich eigentlich kaum begreifen lässt. 

Janina Doerr: Was wünschen Sie sich für die kommenden Tage? 

Patricia Wolf: Natürlich, dass mein Onkel aufwacht. Und dass wir endlich offen reden – über das, was passiert ist und was es nun bedeutet. Nicht nur für die Menschen in der Tschernobyl, sondern für uns alle!

Janina Doerr: Das wünschen wir uns alle. Und wir wünschen vor allem Ihrem Onkel alles Gute und Ihrer Familie ganz viel Kraft für die kommende Zeit. Vielen Dank für das aufschlussreiche Interview.