Ich saß am Bett meines Bruders, der auf seine Operation wartete, als die Nachricht kam. Sie kam nicht wie ein Blitz – eher wie ein leises Rauschen im Hintergrund, erst kaum hörbar, dann auf einmal überall. Ich verstand nur: Etwas war passiert. Im Osten. Ein Reaktor. Tschernobyl.
Die Ärzte liefen auf einmal anders durch die Gänge. Irgendetwas war in der Luft, spürbar und unsichtbar zugleich. Ich spürte, wie sich etwas veränderte, ohne dass jemand es aussprach. Ich ging ans Fenster, starrte hinaus, versuchte, in den Himmel zu sehen, so als könnte ich die Strahlung selbst erkennen. Aber da war nichts – nur der ganz gewöhnliche Frühling.
Die Welt draußen ging weiter. Drinnen jedoch warteten wir: auf Nachrichten, auf Klarheit, auf ein Zeichen, das uns sagte, ob wir Angst haben mussten – oder schon zu spät dran waren. Ich war hin- und hergerissen zwischen meiner Sorge um meinen Bruder, der gleich operiert werden sollte, und dieser neuen, kollektiven Bedrohung, von der niemand wusste, wie sie sich anfühlte.
„Ist das etwas Schlimmes?“, fragte ich eine Schwester. Sie zuckte mit den Schultern, murmelte etwas von einem Unfall, von Maßnahmen, von nichts Genauem. Ich fragte nicht weiter. Ich wollte nicht. Oder ich konnte nicht.
Später dann ging ich in die Cafeteria, als ob man dort etwas erfahren könnte, das im OP nicht gesagt wurde. Ein Arzt sprach leise mit einem Kollegen: „Reaktorunfall. Strahlung. Ukraine.“ Ich hörte nur einzelne Worte, setzte sie zusammen wie ein Puzzle, bei dem die wichtigsten Teile fehlen.
Ich dachte an meine Kinder. Was, wenn diese Wolke schon hier ist? Wenn sie in der Luft liegt, die wir atmen, im Wasser, das wir trinken? Ich fühlte mich schuldig, einfach weil ich nichts tat – außer zuzusehen, wie sich etwas Unerklärbares über uns legt.
Am Abend dann ging ich nach Hause, als sei es ein ganz normaler Tag gewesen. Ich setzte mich an den Küchentisch, schrieb auf, was ich wusste – und noch viel mehr, was ich nicht wusste. Vielleicht war das mein einziger Schutz: Worte gegen das, was sich nicht sagen lässt.
Mecklenburg, 28.April.1986