27.04.1986 ++18:13 Uhr++
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Nur einen Tag nach der Katastrophe herrscht in der Region eine Mischung aus Ungewissheit und Panik. Während offizielle Informationen spärlich blieben, waren medizinische Einrichtungen in Alarmbereitschaft – oft ohne genau zu wissen, worauf sie sich vorbereiten. Wir sprachen mit Irina K., Krankenschwester in einem Krankenhaus in Pripjat, etwa drei Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt.
S.: Frau K., wann haben Sie zum ersten Mal von dem Unfall in Tschernobyl erfahren?
K.: Gestern Nacht. Ich hatte eigentlich Nachtdienst, aber gegen zwei Uhr morgens wurden wir plötzlich alarmiert. Nicht offiziell, sondern durch Kollegen, die hektisch ins Krankenhaus kamen. Man sagte uns, es habe einen „Zwischenfall“ gegeben. Mehr wurde uns nicht gesagt. Es klang nicht dramatisch. Kurz darauf trafen die ersten Feuerwehrleute ein. Sie waren schwer verbrannt – es waren keine gewöhnlichen Verbrennungen. Ihre Haut war rot, geschwollen, teilweise schwarz, aber nicht vom Feuer. Es war…etwas anderes. Etwas, das wir so noch nie gesehen hatten.
Gegen Mittag kamen vermehrt Patienten mit unklaren Symptomen: Übelkeit, Hautrötungen, Schwindel. Einige hatten in der Nacht am Reaktor gearbeitet. Niemand sprach offen von Strahlung aber wir wussten es.
S.: Wie sind Sie damit umgegangen?
K.: Wir haben improvisiert. Wir hatten keine Ahnung, was wirklich passiert war. Wir wussten kaum wie wir mit der Situation umgehen sollten. Die Männer schrien vor Schmerzen, wir wuschen sie, legten sie auf Betten, verabreichten Schmerzmittel. Das war alles, was wir tun konnten.
S.: Gab es Schutzmaßnahmen für das medizinische Personal?
K.: Nein, nichts, was Sie als Schutz bezeichnen würden. Wir hatten keine speziellen Anzüge, keine Atemschutzmasken. Nur einfache Kittel. Einige von uns banden sich feuchte Tücher vor den Mund, in der Hoffnung, das helfe.
S.: Wann haben Sie gemerkt, dass es sich um eine Katastrophe größeren Ausmaßes handelt?
K.: Gestern Morgen. Da roch die Luft metallisch, wie heißes Eisen. Einige von uns begannen, sich unwohl zu fühlen – Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen. Die Stadt wurde nicht sofort evakuiert. Die Menschen gingen zur Arbeit, die Kinder spielten draußen. Ich habe verstanden, dass etwas nicht stimmte, als uns plötzlich befohlen wurde, bestimmte Patienten zu isolieren.
S.: Was ging Ihnen persönlich durch den Kopf?
K.: Ich dachte an meine Kinder. Ich habe zwei kleine Jungen zu Hause. Ich fragte mich, ob ich sie noch sehen würde, oder ob ich sie gefährdete, wenn ich heimkomme. Aber ich konnte die Klinik nicht einfach verlassen, es war viel zu viel los.
S.: Wie war die Stimmung im Krankenhaus?
K.: Eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit. Wir waren erschöpft, überfordert, aber niemand ging. Wir arbeiteten durch die Nacht.
Da war ein kleines Mädchen mit Haarausfall – nur Stunden nach dem Kontakt mit einen Feuerwehrmann, ihrem Vater. Das war wirklich schlimm zu sehen.
S.: Wie ist die Situation heute, am 27. April?
K.: Die Evakuierung hat vor ein paar Stunden begonnen. Busse kommen in Kolonnen, die Menschen dürfen nur das Nötigste mitnehmen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind schon auf dem Weg in andere Krankenhäuser, einige wurden selbst eingeliefert. Ich bleibe noch hier, solange ich gebraucht werde. Aber ich habe Angst, besonders um meine Kinder. Die Luft riecht süßlich, metallisch. Die Natur ist still geworden. Keine Vögel, keine Insekten. Es ist, als hätte die Erde den Atem angehalten.
S.: Vielen Dank für ihre Offenheit. Wir wünschen Ihnen nur das Beste.