Veröffentlicht am: 29. April 1986

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Nachrichten / International

Eine Katastrophe, die unsichtbar beginnt – und ganze Länder verändert

Am 26. April 1986 um 01:23 Uhr Ortszeit kommt es im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl zu einer der folgenschwersten Nuklearkatastrophen der Menschheitsgeschichte. Ein Routine-Test endet in einer Explosion, deren Auswirkungen noch Jahrzehnte spürbar sein werden. Wir berichten, was passiert ist – und was es für uns bedeutet.

Der Unfall im Reaktorblock 4: Eine fatale Kettenreaktion

In der Nacht von Freitag auf Samstag sollte im Reaktor 4 des Atomkraftwerks ein Sicherheitstest durchgeführt werden: Man wollte herausfinden, ob die Turbinen auch bei einem Stromausfall noch kurz genug Energie liefern, um das Kühlsystem zu betreiben.

Doch der Test lief nicht wie geplant. Ein Reaktoringenieur, der anonym bleiben möchte, berichtet:

„Wir hatten den Test eigentlich tagsüber geplant – aber wegen einer Netzanforderung wurde er auf die Nacht verschoben. Die Bedienmannschaft war müde, der Ablauf komplex.“

Ein kritischer Fehler: Die Reaktorleistung wurde zu stark abgesenkt. Automatische Sicherheitssysteme wurden abgeschaltet. Als man versuchte, die Leistung wieder zu erhöhen, kam es zur Katastrophe: Eine unkontrollierte Kettenreaktion, eine Dampfexplosion, und schließlich der offene Brand des Reaktorkerns.

Reaktor 4: Ort der Explosion

Die radioaktive Wolke – Und die Stille danach

Statt Alarm zu schlagen, versuchte man in den ersten Stunden, das Unglück geheim zu halten. Feuerwehrleute wurden ohne Schutzkleidung zum Brandherd geschickt – viele starben innerhalb weniger Tage an akuter Strahlenkrankheit.

Ein Sanitäter in Kiew sagte in einem westlichen Interview:

„Sie haben uns gesagt, es sei nur ein chemischer Brand. Als wir die Haut der Männer sich ablösen sahen, wussten wir: Das stimmt nicht.“

Erst am Montag, dem 28. April, wurde in Schweden eine erhöhte Radioaktivität gemessen – und so wurde das Schweigen durch internationale Druck durchbrochen. Die Sowjetunion gestand eine „Störung“ ein. Die tatsächliche Tragweite: verschwiegen.

Was bedeutet Tschernobyl für Europa – und für uns?

Die freigesetzten radioaktiven Stoffe – darunter Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90 – wurden durch den Wind nach Norden getragen. Finnland, Schweden, Polen, selbst Teile der DDR registrierten bereits erhöhte Werte. Der Regen am Montag war vermutlich belastet – doch viele DDR-Bürger wussten nichts davon.

Eine junge Mutter aus Gera erzählt:

„Ich habe am Sonntag noch mit meinem Kind im Sandkasten gespielt. Erst am Dienstag sagte mir eine Nachbarin: ‚Spielplatz meiden.‘ Aber warum – das hat keiner gesagt.“

Regen mit Risiko – und keiner weiß, warum

Die Reaktion der DDR: Zwischen Schutz und Schweigen

Offiziell hieß es: „Kein Anlass zur Beunruhigung“. Dennoch wurden Kitas vorsorglich geschlossen, Schulhöfe gesperrt, Jodtabletten eingelagert. Eine Ärztin aus Leipzig, die anonym bleiben möchte, berichtet:

„Wir bekamen Anweisungen, aber keine Erklärungen. Es hieß: ‚Beruhigen Sie die Bevölkerung.‘ Aber wir waren selbst nicht ruhig.“

Fazit: Tschernobyl verändert alles

Die Explosion in Block 4 ist nicht nur ein technisches Versagen – sondern ein Weckruf. Für die Welt, für Europa, und für das Vertrauen in Fortschritt. Noch immer kämpfen Techniker mit den Folgen: Der Reaktor brennt, es wird mit Sand und Blei abgeworfen. Eine vollständige Eindämmung? Ungewiss.

Und währenddessen breitet sich die Unsicherheit aus – mit jedem Windstoß, jedem Tropfen Regen, jedem Schweigen mehr.