Veröffentlicht am: 29. April 1986

Lesezeit: ca. 4 Minuten

Von: C.W., Bürgerin aus dem Ost-Berliner Bezirk

Es ist der 28. April, kurz vor Mittag. Ich sitze am Fenster meines Arbeitszimmers und sehe, wie sich der Himmel leicht milchig verfärbt. Nicht grau, nicht blau – einfach seltsam. Frühling liegt in der Luft. Und doch spüre ich einen Druck. Im Kopf. In der Brust. Es ist, als würde etwas kommen, das noch keinen Namen hat.

Das Radio spielt wie immer Musik. Nachrichten über landwirtschaftliche Erträge. Keine Hinweise auf ein Unglück, keine Warnungen. Und doch flüstern manche Kollegen im Büro: „Irgendwas ist passiert im Westen… oder vielleicht in der Sowjetunion?“*

Meine Schwester, Ärztin in der Klinik, ruft mich kurz nach der Visite an. Ihre Stimme ist gedämpft.

„Wir sollen vorsichtig sein. Nicht rausgehen, nicht lüften. Und es niemandem sagen.“
Ich frage sie, was das soll. Sie weicht aus:
„Wir bekommen neue Anweisungen. Mehr kann ich dir nicht sagen.“
Ich höre an ihrer Stimme, dass sie mehr weiß. Ich höre auch, dass sie Angst hat.

Ich gehe kurz einkaufen. Die Verkäuferin im Konsum sagt zu mir:

 „Komisch heute, oder? Mein Kind klagt über Kopfweh. Ich hab auch so ein komisches Ziehen in den Knochen.“
Wir lachen. Unsicher. Niemand will der Erste sein, der das Wort „Strahlung“ in den Mund nimmt.

Zuhause ziehe ich die Gardinen zu, obwohl die Sonne scheint. Warum, weiß ich selbst nicht. Vielleicht, weil mir das Licht zu scharf erscheint. Vielleicht, weil mir plötzlich alles zu offen vorkommt.

Ich trinke einen Tee. Ich schreibe an meinem Artikel weiter. Irgendwas über Ethik, über Verantwortung. Aber meine Gedanken wandern ab. Ich denke an eine Karte der Sowjetunion. Ich stelle mir ein Kraftwerk vor. Und ich sehe etwas brennen. Kein Bild, kein Geräusch – nur ein Gefühl.

Was geschieht da draußen? Warum sagt niemand etwas?

Ein Frühlingstag in der DDR – still, warm, und doch beunruhigend still.