Veröffentlicht am: 29. April 1986
Lesezeit: ca. 6 Minuten
Hintergrund / Mensch & Meinung
Einleitung der Redaktion
Wenige Tage nach der Reaktorexplosion in Tschernobyl herrscht in der DDR auffallende Stille. Während internationale Medien von einer der schwersten Nuklearkatastrophen aller Zeiten sprechen, bleiben offizielle Stellungnahmen knapp und beruhigend – beinahe beschwichtigend.
Doch wie fühlten sich die Menschen wirklich, die in diesen Tagen im Gesundheitssystem arbeiteten? Wie gingen Ärztinnen und Ärzte mit der Unsicherheit und den Gerüchten um – ohne Internet, ohne freie Presse, aber mit der Verantwortung für Menschenleben?
Wir haben mit einer Internistin aus einem Bezirkskrankenhaus gesprochen, die am Wochenende des Unglücks Dienst hatte. Sie möchte anonym bleiben – aus Angst vor beruflichen Konsequenzen. Aber ihre Worte zeigen, wie nah Angst, Loyalität und Hilflosigkeit beieinander lagen.
„Man hat uns angewiesen, die Leute zu beruhigen – aber wir waren selbst nicht ruhig“
Interviewpartnerin: Dr. med. Renate K., 42 Jahre, Fachärztin für Innere Medizin (Name geändert)
Ort des Gesprächs: Anonymer Treffpunkt in Halle (Saale)
Frage: Frau Dr. K., wann haben Sie zum ersten Mal von der Reaktorkatastrophe erfahren?
Dr. K.: „Offiziell – erst am Montag, in einer kurzen internen Mitteilung. Aber ich hatte schon am Samstag einen Verdacht. Einige Kollegen sprachen von ungewöhnlicher Radioaktivität in Schweden, die man dort nicht erklären konnte. Und da wusste ich: Es ist etwas passiert.“
Frage: Haben Sie mit Ihren Patienten darüber gesprochen?
Dr. K.: „Nein. Uns wurde klargemacht: Wir sollen keine Panik verbreiten. Wörtlich hieß es: ‚Die Partei ist informiert, es besteht kein Anlass zur Beunruhigung.‘ Aber gleichzeitig kamen plötzlich Lieferungen mit Jodtabletten ins Haus, die nicht ausgegeben werden durften. Das war absurd.“
Frage: Wie war die Stimmung im Krankenhaus?
Dr. K.: „Unruhig. Wir Ärzte wussten mehr als die Öffentlichkeit, aber weniger als wir wissen wollten. Eine Kollegin aus dem Labor sagte: ‚Die Luft schmeckt anders.‘ Und tatsächlich hatte ich Kopfschmerzen – und ich bilde mir das nicht ein.“
Frage: Gab es Anweisungen zum Verhalten im Alltag?
Dr. K.: „Ja. Uns wurde empfohlen, keine frischen Salate mehr zu essen und Fenster geschlossen zu halten – aber das nur intern. Für die Öffentlichkeit hieß es: Alles unter Kontrolle. Ich erinnere mich, wie eine junge Schwester weinend sagte: ‚Wenn es so harmlos ist, warum darf mein Kind nicht mehr in den Kindergarten?‘“

Vertrauliche Anweisungen, aber kein offizieller Alarm
Frage: Haben Sie persönliche Maßnahmen ergriffen?
Dr. K.: „Natürlich. Ich habe meine Familie gewarnt. Mein Mann hat sofort das Auto gewaschen – der Regen kam uns seltsam vor. Wir haben nur noch Dosen gegessen, und ich habe meinem Sohn das Spielen draußen verboten.“
Frage: Wie geht es Ihnen damit, dass Sie nicht offen sprechen durften?
Dr. K.: (Schweigt lange) „Ich habe Medizin studiert, weil ich Menschen helfen wollte. In diesen Tagen war ich Teil eines Systems, das Menschen ruhigstellen wollte. Das ist schwer auszuhalten. Ich habe mir damals jeden Abend ins Tagebuch geschrieben: ‚Was ich verschweige, wird nicht verschwinden.‘“
Frage: Was denken Sie heute über Atomkraft?
Dr. K.: „Ich habe früher geglaubt, Technik sei beherrschbar. Heute denke ich: Technik ohne Wahrheit ist gefährlich. Der Reaktor in Tschernobyl ist explodiert – aber bei uns explodierte das Schweigen.“
Kommentar der Reduktion:
Das Gespräch mit Dr. K. wirft ein grelles Licht auf das innere Dilemma vieler DDR-Bürger: Die Angst war real, aber der Zugang zur Wahrheit war blockiert. Während der Westen zumindest warnte, herrschte im Osten ein orchestriertes Schweigen. Und mittendrin: Ärztinnen wie Dr. K., die helfen wollten – und zum Schweigen verdammt waren.

Zerrissen zwischen Pflicht und Gewissen