Zwischen Operationstisch und Reaktor: Ein ganz persönlicher 26. April

Von einer Bürgerin aus Berlin

Ich sitze am Küchentisch. Es ist Samstag, der 26. April 1986. Mein Bruder liegt im Krankenhaus. Hirntumor. Heute früh wurde er operiert. Ich warte. Ich warte auf ein Zeichen, auf einen Anruf, eine Nachricht. Es ist still in der Wohnung. Diese beklemmende, aufdringliche Stille, die man nur kennt, wenn man auf etwas wartet, das man aber nicht beeinflussen kann.

Zur Mittagszeit rief eineFreundin an. Irgentwas sei passiert in der Sowjetunion, ein Atomkraftwerk, eine Explosion. Genaueres wisse niemand. Ich habe das Radio eingeschaltet. NIchts. Nur Musik. Alles scheint wie immer.

Ich stehe auf, gehe zum Fenster. Der Himmel sieht aus wie immer. Ein paar Wolken, ein bisschen Wind. Nichts deutet darauf hin, dass da draußen möglicherweise eine unsichtbare Gefahr durch die Luft schwebt. Dass eine radioaktive Wolke unterwegs ist. Man sieht nichts. Man riecht nichts. Aber ich beginne zu zweifeln.

„Ich wartete auf zwei Nachrichten: Aus dem Operationssaal – und aus der Welt“

Ich frage mich, ob mein Bruder die Operation übersteht. Zwei Katastrophen, eine privat, die andere global, laufen parallel in mir zusammen. Ich kann das eine nicht vom anderen trennen.

Ich versuche mich zu konzentrieren, doch jeder Gedanke endet beim Reaktor. Oder beim OP-Tisch.

Ich merke: Ich werde wütend. Nicht nur wegen der Katastrophe – sondern wegen der Stille. Die Nachrichten berichten über alles andere, nur nicht darüber, ob wir unser Fenster schließen sollen. Ob unsere Kinder draußen spielen dürfen. Wir werden beruhigt, nicht informiert.

Am Abend kommt der Anruf. Mein Bruder hat die Operation überstanden. Ich weine vor Erleichterung. Vor Angst. Denn ich weiß nicht, was ich mehr fürchte: den Verlust eines geliebten Menschen – oder den Verlust an Vertrauen in das, was man uns als sicher verkauft.

Was bleibt ist die Unruhe. Und der Wunsch, wenigstens die Wahrheit zu kennen.