31.05.1986

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Der folgende Beitrag wurde anonym eingereicht. Er gibt die persönliche Meinung der Verfasserin / des Verfassers wieder und muss nicht mit der Haltung der veröffentlichten Stelle übereinstimmen.

Es sind jetzt fünf Tage vergangen, seit wir zum ersten Mal im Radio: „In einem sowjetischen Kernkraftwerk hat es einen Störfall gegeben“, gehört haben. Fünf Tage in denen sich die Welt verändert hat – obwohl alles gleich aussieht.

Morgens gehe ich wie immer zum Bäcker. Die Schlange ist lang, wie immer. Die Verkäuferin lächelt, wie immer. Aber ich sehe es in den Gesichtern: Etwas stimmt nicht. Man redet leise. Man meidet bestimmte Worte. Niemand sagt „Strahlung“. Niemand sagt „Tschernobyl“. Und doch denkt jeder daran.

In den Nachrichten heißt es, es bestehe „keine Gefahr für die Bevölkerung“. Gleichzeitig hört man, dass in Schweden erhöhte Werte gemessen wurden, dass in Bayern Kinder nicht mehr draußen spielen sollen. Bei uns? „Alles unter Kontrolle.“ Aber was bedeutet das?

Die Straßen sind voll, die Menschen gehen zur Arbeit, als sei alles normal. Aber es ist eine Normalität auf wackeligem Boden. Ich sehe Mütter, die ihre Kinder mit langen Ärmeln zur Schule schicken, obwohl es warm ist. Auf den Wochenmärkten wird Gemüse plötzlich gemieden, das noch vor wenigen Tagen selbstverständlich war.

Wir tun so, als sei nichts, weil wir nicht wissen, was ist. Es gibt keine klaren Informationen, keine konkreten Anweisungen. Und genau das ist das Problem. Die Angst kommt nicht plötzlich – sie schleicht sich ein. In Gedanken, in Gespräche, in Alltagshandlungen.

Ich frage mich, wie lange man so weitermachen kann. Wie lange der Alltag noch trägt, wenn das Vertrauen in die Sicherheit bröckelt. Wenn man jeden Regen misstrauisch beäugt, jede Meldung doppelt hört, jede Entscheidung hinterfragt.

Vielleicht ist das das Erschreckendste an dieser Katastrophe: Nicht nur, was passiert ist, sondern wie wenig man darüber wissen darf. Und wie still es trotzdem überall bleibt.